Nessa Barrett - Aftercare (2024)
- Michael Scharsig
- 15. Nov. 2024
- 4 Min. Lesezeit
Keine vier Jahre ist es her, dass die US-Amerikanerin mit puerto-ricanischen Wurzeln 2019 auf TikTok berühmt wurde und 2020 ihre Debütsingle Pain veröffentlichte. Ihr Musikstil durfte da noch trotz klarer Pop-Attitüden als düster, rockig und gesellschaftskritisch verbucht werden. Inhaltlich verarbeitete die heute 22-Jährige meist persönliche Erfahrungen mit psychischen Problemen. Essstörungen, Schönheitsideale und toxische Männer. Ihre ersten EP pretty poison veröffentlichte sie am Welttag der Suizidprävention.

Schon auf dieser EP überraschte die junge Sängerin mit gitarrenlastigen Songs a lá i hope ur miserable until ur dead. Gleiches tat sie dann mit der späteren Pop-Punk-Nummer Bang Bang! Ihr Debütalbum Young Forever erreichte 2022 Platz 80 der US-Charts und warf zwischendurch ebenfalls I Love Rock’N’Roll-Vibes durch die Hallen, dank Songs wie Too Hot To Cry oder Talk To Myself. Doch Nessa Barrett kann auch anders. Zum Beispiel im treibend-melancholischen fuckmarrykill oder der männerkritischen Ballade hell is a teenage girl, die im Stile eines Bond Themes über Slutshaming losledert.
Anders als bei ihren bisherigen großen Erfolgen, ist bei ihrem 2. Album Evan Blair nicht mehr als Produzent mit an Bord. Dafür wurden CJ Baran (Panic! at the Disco, ONE OK ROCK, Simple Plan, Britney Spears u. a.) und der Franzose Arthur Besna verpflichtet. Bleibt die Frage: Wie viel von der sehr ehrlichen, klaren und kritischen Musik bleibt in AFTERCARE bestehen? Die Antwort fällt leider etwas nüchterner aus. Das liegt nicht an der elektronischen Richtung, die Barrett hier einschlägt, sondern an der Berechenbarkeit und schwächeren Botschaften. Die sexualisierte Persona, die Barrett bislang wie ein kunstvolles Spiegelbild der Gesellschaft für sich nutzte, ist weniger konsequent und poetisch. Schon Songtitel wie S.L.U.T, PORNSTAR oder DIRTY LITTLE SECRET deuten das an.
Lyrics wie OnlyFans: Billig, offen und selten Premium
Das Albumtitel-gebende Intro überzeugt erst einmal mit sehr melodischem Arrangement. Doch schon bei PORNSTAR wird es schwierig. Als Freund elektronischer Musik gefallen mir zwar die simple Bassline, die repetitiven Vocals und die cleanen Drums. Aber... „I wanna know what you'd do to me. I wanna put you on the tape. Flashing red light. Baby, you're a star. Fuck me all night“. Really? Auch in HEARTBEAT heißt es „Speak to me in tongues, oh, mi amore. Put me on my knees and lock the door. I'm yours“. Erstens klingt die Musik noch generischer, wie ein Song, den The Weeknd vor zehn Jahren veröffentlicht hätte und zweitens suche ich auch hier vergebens nach der sonst so starken Meta-Ebene.
Die Dance-Pop-Nummer DISCO besänftigt anschließend erst einmal. Zu groovy der Bass, zu cool die Drums, zu schön das Melody-Writing. Auch die elektronische Verspieltheit mit Nessas Vocals gefallen mir hier. Den Rap-Part von Tommy Genesis hätte es gar nicht gebraucht, aber er schadet auch nicht. Eingängig, sexy und… sagen die jungen Leute echt wieder „Disco“? Naja. Auch der Hit es Albums, PASSENGER PRINCESS klingt wie eine Weeknd-Produktion. Viel Synth-Pop, was dem Album bislang auch eine gewisse Konstanz schenkt. Auch hier wirkt das „I’m your baby girl on boad“ allerdings langsam vorhersehbar. Textlich ist der Tiefpunkt dann mit MUSTANG BABY und sämtlicher Cowgirl-, Reiten- und Good-Girl-Rhetorik erreicht.
Zum Glück erinnert die Piano-Ballade RUSSIAN ROULETTE daran, was Nessa Barrett in der jungen Vergangenheit so stark gemacht hat. Ein bisschen viel Lana-del-Rey-Geseufze, ja. Aber gut umgesetzt. S.L.U.T. hält danach dann, was ich befürchtet hatte. Zu billigen auf pseudo-darke Industrial gepolte Beats stöhnt Barrett irgendeinen Quatsch, wie „Cross my heart, uncross my legs. Oh, when I'm done, I better pray“. BABYDOLL geht da schon wieder spannender an die ganze Geschichte. Zwar ändert sich hier inhaltlich nichts, aber wenigstens wird es nicht zu offensichtlich in Text und Produktion. Schön gesungen, gesanglich vielleicht sogar die coolste Nummer.

Rock adé, dafür aber ein paar Hoffnungsschimmer
Nach dem etwas überproduzierten, aber wenigstens nicht peinlichen GIVEN ENOUGH, kommt dann der saustarke EDWARD SCISSORHANDS, in dem die Liebe zu einem Narzissten beendet wird und das Ganze bildlich in Form von Edward mit den Scherenhänden erzählt wird. Für mich der mit Abstand beste Song des Albums. Spätestens bei GLITTER AND VIOLENCE bekomme ich den Eindruck, das Stimmungsbild hat sich geändert. Zeilen wie „Blood in the water. Everyone wants her. Somebody's daughter's making money tonight“ oder „(Dollar bills flying) Everyone's watching, (silicone diamonds) somebody's daughters got your daddy tonight“ geben mir das Gefühl, als habe sich die plastische Männerfantasie wieder besonnen.
In PINS AND NEEDLES wendet sich Barrett dann ganz von ihrer Babydoll ab und spricht ihrem Empfänger mehr als deutlich ins Gesicht: Don't call me your ex 'cause I never met you. We've never had sex, we never got tattoos. You think you're important, boy, I got bad news. You're mean and you're boring, they'll all forget you.“ Dazu gesellen sich nostalgische Synthie-Spielereien – von den Instrumentals bis hin zur Stimme. STAY ALIVE bedient dann auch wieder ernstere Themen wie Depression und Einsamkeit, bevor die 22-Jährige ihren Typen dann in „DIRTY LITTLE SECRET ganz abserviert: „I'm done playing nice, so baby, don't give me your heart. You can't stay the night, so baby, I'll call you a car.
Fazit: ⭐⭐⭐ / 5
Der Optimist in mir möchte das Album als eine Art Geschichte verstehen, in dem die Hauptfigur dem Empfänger in mehr als eindeutiger Art und Weise vorspielt, worüber er fantasiert. Teils so drüber und billig, dass es unangenehm wird und mit einer zweiten Hälfte, in der die Hauptfigur ihr wahres, starkes Ich zeigt und sich ihrer eigenen Bedürfnisse bewusst ist. Das funktioniert aber wirklich nur, wenn man das Album am Stück hört. Ansonsten tropfen in AFTERCARE einzelne Songs heraus, die in Qualität und Message nicht unterschiedlicher sein könnten.
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